Dual Use
Interdisziplinäre Blickwinkel auf die Schattenseiten der (Berliner) Wissenschaften: Die Dual Use-Problematik
Kontakt: Prof. Dr. Sven Chojnacki (sven.chojnacki@fu-berlin.de)
Der Dual Use-Begriff
Als eine zentrale Problematik ambivalenter Wissenschaften bezeichnet Dual Use die doppelte oder mehrfache Verwendbarkeit von universitärer Forschung für sowohl zivile als auch militärische bzw. gesellschaftlich schädliche Zwecke. Dies verweist darauf, dass das zentrale Ziel von Forschung, gesellschaftliche Verhältnisse menschenwürdiger zu machen und zu friedlichen Transformationsprozessen anzuregen, in das Gegenteil verkehrt werden kann, wenn wissenschaftliche Erkenntnisse politisch oder militärisch instrumentalisiert werden. Forschungen können demnach nicht nur die wissenschaftlich intendierten Folgen und nützlichen Wirkungen, sondern auch nicht-intendierte Nebenfolgen und gesellschaftliche Schäden durch ihre missbräuchliche Nutzung hervorbringen – ohne, dass dies immer kontrolliert und unterbunden werden kann.
Die historische Bedeutung von Dual Use am Campus Dahlem
Der Campus Dahlem selbst liefert außerordentlich bedeutsame wissenschaftsgeschichtliche Beispiele für die Dual Use-Problematik. So arbeiteten hier bis 1933 zahlreiche Nobelpreisträger*innen in den Naturwissenschaften, deren Forschungsergebnisse gleichermaßen Nutzen und Schaden hervorgerufen haben. Ein Beispiel ist die intensive Forschung an der Stickstoffchemie, personifiziert durch Fritz Haber im inzwischen gleichnamigen Institut der Max-Planck-Gesellschaft, die der Welt sowohl Kunstdünger für die Landwirtschaft als auch chemische Waffen bescherte, die im Ersten Weltkrieg erstmalig systematisch zum Einsatz kamen. Ein anderes Beispiel ist die erste experimentelle Kernspaltung, durchgeführt von Otto Hahn und Fritz Strassmann im heutigen „Hahn-Meitner-Bau“. Dieses Experiment hat den Weg zu Nuklearwaffen und den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki im Zweiten Weltkrieg bereitet, aber auch die friedliche Nutzung der Kernenergie vorangetrieben, die allerdings wiederum aus heutiger Sicht selbst aufgrund von Sicherheitsrisiken und ökologischen Gefahren als ein Problemfall gilt.
Gegenwärtige Dual Use-Herausforderungen an der FU Berlin
Neben seinen historisch bedeutungsvollen Forschungen bringt der Campus Dahlem auch gegenwärtig mit den Instituten der FU und MPG als ein breit aufgestellter und innovativer Wissenschaftsstandort unterschiedliche Dual Use-Herausforderungen hervor: unter anderem in der Biologie im Kontext von Gentechnologien oder in der Informationstechnik im Bereich Künstlicher Intelligenz. Und die Bandbreite an natur- und technikwissenschaftlichen Forschungsgebieten, die sich mit der Dual Use-Thematik konfrontiert sehen, ist noch bedeutend länger: Big Data, Drohnen, Satellitentechnologien, Neurowissenschaften oder Experimente mit Viren – bei all diesen Beispielen können Fluch und Segen von Wissenschaften dicht beieinander liegen. Darüber hinaus sind auch geistes- und sozialwissenschaftliche Disziplinen nicht losgelöst von Ambivalenzen. „Friedenskonzepte“ sind oftmals selbst gewaltverstrickt. So müssen politikwissenschaftliche Studien dort kritisch hinterfragt werden, wo entlang simpler Dichotomien, kolonialer Kontinuitäten und geopolitischer Wissensordnungen (u.a. „friedliche Demokratien“ vs. „failed states“) eine politische Indienstnahme zur Legitimation von Kriegen droht, oder Forschung gar direkt im Auftrag sicherheitspolitischer Institutionen die Akzeptanz militärischer Einsätze untersucht.
Der missbräuchliche und ethisch fragwürdige Einsatz von Forschung kann somit in vielfältiger Weise sowohl Erkenntnisse und Know-how, entwickelte Produkte und Materialien als auch erfundene Technologien betreffen. Dadurch wird deutlich, dass die Beschäftigung mit Dual Use untrennbar verbunden ist mit der Thematisierung der Ambivalenzen von Forschungen und der daraus resultierenden Verantwortung von Wissenschaften quer über verschiedene Disziplinen hinweg. Mit anderen Worten: Die Kombination aus historischen Standorten und heutigen Forschungsaktivtäten bietet eine einzigartige Möglichkeit und gleichermaßen Verpflichtung, sich mit dem Thema Dual Use am Campus Dahlem interdisziplinär auseinander zu setzen.
Aktuelle und geplante Projektvorhaben zur Dual Use-Thematik an der FU Berlin
Um vor diesem Hintergrund das am Campus Dahlem verstreute Teilwissen zusammenzuführen und einen offenen Diskussionsrahmen zu Dual Use zu eröffnen, hat sich eine Arbeitsgruppe zur Dual Use-Thematik an der FU gebildet. Diese besteht bereits aus Wissenschaftler*innen aus der Breite der an der FU vertretenen Disziplinen, damit ein explizit interdisziplinärer Austausch über unterschiedliche Dual Use-Verstrickungen und die Verantwortung von Wissenschaften entstehen kann. Parallel dazu erfolgt derzeit im Rahmen eines vom FU-Präsidium geförderten Projektes unter der Leitung von Prof. Dr. Jens Rolff (Biologie) und Prof. Dr. Sven Chojnacki (Politikwissenschaft) eine systematische wissenschaftliche Recherche historischer und aktueller Dual Use-Beispiele an der FU. Aufbauend auf diesen Aktivitäten wird gemeinsam eine Verstetigung und Vertiefung der Dual Use-Thematik angestrebt:
- Aufbau eines Netzwerkes an interessierten Forschenden und Lehrenden:
Die bestehende Arbeitsgruppe soll zu einem größeren Netzwerk an interessierten Forschenden und Lehrenden an der FU ausgebaut werden. Ein grundsätzliches Ziel des Netzwerkes sehen wir darin, gemeinsam danach zu fragen, wie sich mit der Geschichte der historisch belasteten Orte auseinandergesetzt und an diese angemessen erinnert werden kann. Gleichzeitig soll das Netzwerk eine Möglichkeit schaffen, sich konstruktiv und (selbst‑)kritisch über gegenwärtige Forschungen auszutauschen sowie Ideen zur Verankerung der Thematik an der Freien Universität und in der breiten Öffentlichkeit auszuloten.
- Wissensvermittlung in der Lehre und an eine breite Öffentlichkeit:
Die Wissensvermittlung zur Dual Use-Thematik soll über kreative, interdisziplinäre Lehr- und Lernformate erfolgen. So kann die Verbreitung von Erkenntnissen und die Vertiefung einzelner Problemstellungen über die Organisation von interdisziplinären Lehrveranstaltungen gelingen, für deren Planung und Realisierung das Netzwerk hilfreich sein kann. Konkret wird perspektivisch die Durchführung eines „Offenen Hörsaals“ angestrebt: Durch das an der FU etablierte Format einer wöchentlich stattfindenden, interdisziplinären Ringvorlesung soll ein breites wissenschaftliches, aber auch öffentliches Publikum auf die Dual Use-Thematik aufmerksam gemacht werden – nicht zuletzt, um über den Campus Dahlem hinausgehend gesamtgesellschaftlich über die potentiell problematischen Folgen von Wissenschaften und deren Verantwortung zu sensibilisieren.
- Erstellung einer Ausstellungs- und Museumskonzeption:
Die im Rahmen der Projektrecherchen und des Netzwerkes gewonnen Erkenntnisse sollen langfristig in einem „Dual Use-Museum“ münden, das sich zukunftsweisend mit den unterschiedlichen Beispielen und den aufgezeigten Herausforderungen an der FU beschäftigt. Ein Museum bietet den Vorteil, allen Mitgliedern der FU sowie einer interessierten Öffentlichkeit einen festen Ort und dauerhaften Zugang zum Thema zu ermöglichen. Als Zwischenschritte hin zu einem solchen Museum ist vorab ein Workshop an der FU geplant, in dessen Rahmen sich über konkrete Beispiele und die Dual Use-Thematik im Allgemeinen ausgetauscht werden kann. Zudem ist vorgesehen, eine temporäre Ausstellungskonzeption zu erstellen, die erste Erfahrungswerte für die Weiterentwicklung zu einem Museum zu liefern verspricht.
Bei Interesse an den Projekten oder einer Zusammenarbeit kann gerne Kontakt zu Prof. Dr. Jens Rolff (jens.rolff@fu-berlin.de) und Prof. Dr. Sven Chojnacki (sven.chojnacki@fu-berlin.de) aufgenommen werden.